Im Sozialgerichtsverfahren fallen unter bestimmten Umständen ( wie im Strafverfahren) Betragsrahmengebühren an, vgl. z.B. VV-RVG 3204 oder 3205. Wo im gesteckten Rahmen der Rechtsanwalt die bei ihm angefallene Gebühr verortet, bestimmt er
"...unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der
Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der
Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des
Auftraggebers, nach billigem Ermessen. Ein besonderes Haftungsrisiko des
Rechtsanwalts kann bei der Bemessung herangezogen werden. Bei
Rahmengebühren, die sich nicht nach dem Gegenstandswert richten, ist das
Haftungsrisiko zu berücksichtigen.", § 14 RVG.
Dabei hat er Spielräume, die einer Beurteilung durch die Gericht nicht zugänglich sind, so zuletzt erst wieder der BGH. Wir berichteten
hier.
Das Kieler Sozialgericht hält davon nicht viel. Es hat sich vielmehr ein Schema, das sog. "Kieler Kostenkästchen" (welch niedlicher Name für einen derartigen Eingriff in die anwaltschaftliche Entscheidungsfreiheit!) einfallen lassen, mit dem es unter Mißachtung des anwaltschaftlichen Gebührenbestimmungsrechts die Kosten selbst in den vorgegebenen Rahmen einordnen will. Hält sich der Anwalt daran nicht, ist seine Bestimmung automatisch unbillig.
Das "Kieler Kostenkästchen" ist ein Punktesystem, das wie folgt funktionieren soll (zitiert nach SG Kiel,
BeckRS 2012, 70778):
Im ersten Schritt ordnet das Gericht die oben genannten Kriterien des § 14 RVG in 5 Stufen ein, nämlich
• deutlich unterdurchschnittlich
• unterdurchschnittlich
• durchschnittlich
• überdurchschnittlich
• deutlich überdurchschnittlich
Den einzelnen Kriterien 1. - 4. ordnet die Kammer sodann einen Wert
von je 1 - 5 Punkten zu, wie aus der folgenden Tabelle ersichtlich:
| deutlich unterdurchschnittlich | unterdurchschnittlich | durchschnittlich | überdurchschnittlich | deutlich überdurchschnittlich | |
Umfang | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | Punkt(e) |
Schwierigkeit | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | Punkt(e) |
Bedeutung | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | Punkt(e) |
wirtschaftliche Verhältnisse | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | Punkt(e) |
Anschließend werden die Punkte für die einzelnen Kriterien addiert
und aus der Gesamtpunktzahl nach folgender Tabelle die billigen Gebühren
(auf 5 € aufgerundet) ermittelt.
Punktzahl | nicht unbillige Gebühr | Gebühr für |
Verfahren | Termin | Einigung/Erledigung |
3102
VV-RVG | 3103
VV-RVG | 3106
VV-RVG | 1006
VV-RVG |
|
|
|
|
|
|
4 - 5 | Mindestgebühr | 40,00 € | 20,00 € | 20,00 € | 30,00 € |
6 - 7 | 1/3 der Mittelgebühr | 85,00 € | 60,00 € | 70,00 € | 65,00 € |
8 - 9 | 2/3 der Mittelgebühr | 170,00 € | 115,00 € | 135,00 € | 130,00 € |
10 - 14 | Mittelgebühr | 250,00 € | 170,00 € | 200,00 € | 190,00 € |
15 - 16 | 1/3 über der Mittelgebühr | 335,00 € | 230,00 € | 270,00 € | 255,00 € |
17 - 18 | 2/3 über der Mittelgebühr | 420,00 € | 285,00 € | 335,00 € | 320,00 € |
19 - 20 | Höchstgebühr | 460,00 € | 320,00 € | 380,00 € | 350,00 € |
Dabei nimmt das Sozialgericht zusätzlich die folgenden Vor-Beurteilungen vor:
"Die Schwierigkeit einer Untätigkeitsklage ist deutlich unterdurchschnittlich.
Die Bedeutung einer Untätigkeitsklage ist unterdurchschnittlich.
Bei Empfängern von Grundsicherungsleistungen liegen deutlich unterdurchschnittliche Einkommens- und Vermögensverhältnisse vor.
Daneben ist das Haftungsrisiko zu berücksichtigen. Dies ist aber wegen
des im sozialgerichtlichen Verfahren herrschenden
Amtsermittlungsgrundsatzes und der Möglichkeit von Überprüfungsanträgen
in der Regel zu vernachlässigen. Aufgrund der - insbesondere in
Verfahren wegen Grundsicherungsleistungen - objektiv niedrigen
Gegenstandswerte hätte die Berücksichtigung des anwaltlichen
Haftungsrisikos eher gebührensenkende Auswirkungen."
Wen wundert da noch, dass hier eine Kollegin für eine Untätigkeitsklage nur 208,25 € incl. MWSt. zugesprochen bekam.
Immerhin: Der Kostenbeamte wollte ihr sogar für das ganze Verfahren nur 85,68 € incl. MWSt. genehmigen.
Liebe Leute! So geht's einfach nicht!
- Zu solchen Sätzen kann ein Anwalt nicht einmal dann arbeiten, wenn er seine Kanzlei in einer aufgelassenen Frittenbude im Kieler Hafen betreibt!
- Wieso bitte ist die Bedeutung einer Untätigkeitsklage automatisch immer unterdurchschnittlich? Wenn die Behörde Monate lang nicht in die Socken kommt, und ich als Grundsicherungsempfänger warte dringend auf Unterstützung, dann ist die Sache für mich von existentieller Bedeutung!
- Wieso mindert sich beim Anwalt das Haftungsrisiko, wenn im Verfahren Amtsermittlungsgrundsatz herrscht? Weil Behörden und Gerichte immer alles richtig machen und ich mich als Anwalt deshalb um nichts mehr kümmern muss?
- Unterstellt, der Anwalt muss für eine arme Kirchenmaus arbeiten wie ein Stier, trotzdem hat die Sache aber nur unterdurchschnittliche Bedeutung und ist auch eigentlich nicht rechtlich schwierig. Es braucht nur einen Haufen Zeit und Arbeit, um alle Belege herbeizubringen und für das Gericht zu sortieren. Hat der Anwalt dann wirklich nur Anspruch auf 2/3 der Mittelgebühr, obwohl er seine volle Power in die Sache investiert hat?
Also das ist sehr ungut! Das führt dazu, dass man nur, weil man Grundsicherungsempfänger ist, keine wirksame anwaltschaftliche Unterstützung mehr bekommen kann - und das ist eine Aushöhlung unseres Rechtsstaatsprinzips, das dem Armen wie dem Reichen gleiche Behandlung vor Gericht gewähren soll.
Also Vorsicht vor dem "Kieler Kostenkästchen" und eventuellen Bemühungen, solche Schemata auch auf andere Rahmengebühren (in Strafsachen!? Rechtsschutzversicherer hätten sicher Freude an solcherart Rechenspielchen!) anzuwenden. Da werden wir uns entschlossen wehren müssen!