Zu BGH NJW 2010, 2437, Az.: XII ZR 98/08
Das Urteil geht in seiner rechtlichen Argumentation völlig in Ordnung, gleichwohl hat man, wenn man das tatsächliche Ergebnis betrachtet, ein komisches Gefühl:
Jemand, der für vier Kinder Unterhalt bezahlen muss, wird so behandelt, wie wenn er 700 € monatlich mehr verdienen würde, Das drückt ihn unter das Existenzminimum, weil die Unterhaltsforderungen seiner Kinder wegen des fehlerhaften Vor-Urteils ja vor der Selbstbehaltsgrenze von 900,00 € keinen Halt machen. Der Unterhalt ist tituliert, nicht abänderbar und vollstreckbar, egal wieviel dem Schuldner bleibt. Und weil der Titel auch noch dynamisch ist, der Schuldner aber aus Altersgründen kaum noch Chancen hat, seine Einkommenssituation zu verbessern, wird die Sache mit jeder Anpassung der Düsseldorfer Tabelle noch schlimmer.
Dem Schuldner bleibt nur noch, sich auf Pfändungsfreigrenzen zu berufen, wobei ihm aber nur noch dasjenige bleibt, was ihm § 850 d ZPO zugesteht, da die Grenzen des § 850 c ZPO natürlich gegenüber den Unterhaltsberechtigten nicht gelten.Ferner kann er Verbraucherinsolvenz anzumelden, wobei ihm das aber auch nur hinsichtlich seiner Unterhaltsrückstände hilft. Laufender Unterhalt ist als jeweils monatlich neu entstehende Forderung nicht Bestandteil des Insolvenzverfahrens.
Dieser Sitaution wird der Unterhaltsschuldner nur deshalb ausgesetzt, damit die Rechtskraft eines definitiv falschen Ausgangsurteils gewahrt bzw. - um in der hier üblichen dramatischen Diktion zu bleiben - nicht "durchbrochen" wird.
Dem Gesetz und der Rechtsprechung geht es um Rechtsfrieden und Rechtssicherheit - beides Rechtspositionen mit unstreitig hohem Stellenwert in unserem Rechtsstaat. Aber wenn man genau hinsieht, werden durch solcherart Handhabung genau diese Rechtspositionen eben nicht geschaffen. Der Umstand, dass jemand mehr zahlen muss, als er bei richtiger Sachbehandlung eigentlich müsste, schafft eher Unfrieden als Frieden zwischen den Beteiligten. Und hat derjenige, der entgegen der materiellen Rechtslage auf Kosten eines anderen einen Vorteil erlangt hat, wirklich Anspruch auf Rechtssicherheit? Oder wird ihm (Pardon für ein neues Unwort, das ich hier in die Welt setze) nicht eher "Unrechtssicherheit" gewährt?
Der Gesetzgeber hat das Problem übrigens gesehen: Im ersten Entwurf des FamFG war § 238 II FamFG eine Billigkeitsklausel angefügt, nach der auch "Alttatsachen" für eine Änderung eines Urteils relevant sein sollten, wenn andernfalls eine grob unbillige Situation für den Unterhaltsschuldner entstehen oder aufrechterhalten würde ( vgl. BT-Drucks 16/6308, S 257 ff.). Das haben die Bundesländer gekippt (vgl. BT-Drucks 16/9733, S. 296), weil diese Regelung die Gefahr einer erheblich höheren Belastung der Gerichte bergen würde. Diese offensichtlich fiskalische Betrachtungsweise (mehr Gerichtsverfahren = mehr Richterplanstellen + mehr Aufwendungen für PKH und VKH = höhere Belastung für die ohnehin leeren Länderkassen), die im FamFG an mehreren Stellen sichtbar wird (vgl. z.B. § 78 II FamFG), kann aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht überzeugen.
Zu Recht stößt Norpoth die Diskussion hierüber mit seiner Kommentierung des Urteils in NJW 2010, 2440 wieder einmal an. Er schlägt vor, die Rechtskraftwirkung falscher Unterhaltstitel zeitlich zu begrenzen, z.B. auf 2 Jahre - ein Vorschlag, den der Gesetzgeber erwägen sollte.
Gerhard Kaßing
RA+FAFamR
München
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